Philosophisches Spiel mit bildnerischen Mitteln
Im September 1993 hat Pit Kinzer erstmals einen größeren Ausschnitt aus dem "Rayuela Blues Projekt" öffentlich vorgestellt. In der Augsburger Galerie "Kulturesk" schwebte der Sound seines Saxophons, das im Blues den emotionalen Wert der Farbe Blau, der sich in den angelsächsischen Redewendungen für traurige, melancholische Stimmungen ausdrückt, zum Schwingen bringt. Kinzers Blues-Band "BlueSand" ist Teil des Projekts. An den Wänden großformatige Tafelbilder, vehement gestische Malerei, Blau in allen Nuancen mit braunschwarzen Akzenten, mitunter ein violetter Schatten inmitten dieser optischen Fuge von Azurit über Coelin, Kobalt, Miloriblau, Pompejanisch und Pariserblau bis zu den Ultramarin- und Zyanpigmenten.
Leg mal "Jazz me Blues" auf (Julio Cortázar, Rayuela)
Auch der Hinweis auf den großen Roman "Rayuela" von Julio Cortázar, den "Ulysses" der lateinamerikanischen Literatur, bringt vorerst keine Lösung. Dieses Buch besteht aus drei Teilen:
Der erste Teil spielt im Paris der fünfziger Jahre. Der etwa vierzigjährige Argentinier Horacio Oliveira, der "Held" des Buches, erlebt mit einer gewissen Maga eine komplizierte Liebesbeziehung. Er debattiert stundenlang mit Freunden über Literatur, Politik, Jazz, Malerei und menschliche Probleme. Aus diesen hochvergnüglichen Debatten heraus läßt sich bereits eine Brücke schlagen zum dritten Teil des Buches, den der Autor selbst durchaus süffisant als "entbehrliche Kapitel" bezeichnet hat: ein buntes Kaleidoskop von Kommentaren zu den vorangegangenen Ereignissen, von literatur-theoretischen Abhandlungen, Zeitungsnotizen, Witzen, Zitaten anderer Autoren und - Spielen. Im zweiten Teil des Buches sind wir in Buenos Aires, Oliveira findet alte Freunde wieder. Es kommt zu einer verdoppelten Spiegelung der Personenkonstellationen des ersten Teils. Schließlich leiten alle gemeinsam ein Projekt, eine Irrenanstalt. Oliveira wird dabei selbst zum Patienten und in einem mißglückten Suicidversuch, wenn es denn einer ist, stürzt er sich aus dem Fenster. Dabei fällt er auf ein Hüpfkästchenspiel im Hof.
"Rayuela", die spanische Bezeichnung für dieses Hüpfkästchenspiel, wird in Cortázars Jahrhundertwerk, das neben der chronologischen Lesart auch eine Art Hüpfspiel des Lesens durch die Kapitel ermöglicht, zugleich auf eine bezaubernd tiefgründig-spielerische Weise zum Ausdruck einer Weltsicht des 20. Jahrhunderts, zur Chiffre für das Leben und Lebensverständnis unserer Tage.
Indem Pit Kinzer diesen Titel und die Fragment-Struktur (das "Rayuela- Blues-Projekt" besteht aus über 50 Bildern, die in immer anderen Kombinationen gezeigt werden können) verwendet, meldet er Ansprüche an.
"Rayuela-Blues-Projekt" ist nicht nur ein Gesamtkunstwerk, das Literatur aufgreift, Brücken schlägt zur Musik, ein philosophisches Spiel mit bildnerischen Mitteln. Es ist vor allem kein beliebiges austauschbares Projekt. Sondern ein spielerisch auf die Gesamtheit von Welt im philosophischen Sinn bezogenes Projekt, gewissermaßen ein Weltprojekt.
Wenn einer, der das Spiel kennt, einer Schachpartie zusieht, so hat er bei einem Zug des Spiels im allgemeinen ein anderes Erlebnis als der, welcher zusieht, ohne das Spiel zu verstehen.
(Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik)
Eine Enträtselung des "Rayuela-Blues-Projektes" ist nicht beabsichtigt; es ware schon viel erreicht, wenn es gelänge, Wege zum Verständnis aufzuzeigen.
Ein erster Zugang sei versucht über die Stellung des "Rayuela-Blues-Projektes" im Werk des Künstlers. Was vordergründig irritieren könnte, die Abkehr von einer pointiert realistischen Bilderwelt, von diskursiven Elementen, die formale Reduktion im Holzschnitt, die Engführung auf die Grundfarbe Blau, vollzieht sich nach "Spielregeln", die in nuce zumindest in seinem bisherigen Oeuvre schon aufscheinen. Bereits die Radierungen von Pit Kinzer haben Bildmotive, zum Teil dem öffentlichen Bildangebot der Medien entnommen, nach dem Prinzip der Collage kombiniert, scheinbar Zufälliges nebeneinander gestellt, Reales und Absurdes in Beziehung gesetzt und mit neuen Kombinationen von Teilmotiven experimentiert. Im Vordergrund stand dabei nicht das Experiment um seiner selbst willen, sondern bildnerische Sinnfindung in einer Welt vorfabrizierter Bilder.
Die Radierbilder des "Gespenstertanzes" von 1989 brachten zusätzliche Erweiterungen des Bildraumes, die Kombination der Radierung mit der Malerei - und eine Abwendung von der literarisch-diskursiven Inhaltlichkeit, die von der Technik der Radierung her so naheliegt. Im Rückgriff auf frühgeschichtliche Bildmotive versucht der Künstler, die Gegenwart in ihrer vielfältigen Bedrohung, aber auch in ihren hoffnungsträchtigen Möglichkeiten bildnerisch zu definieren. Zunehmend setzt Pit Kinzer dabei auf die Autonomie der Bildsprache selbst. Im Holzschnitt nun ist der Weg zur Abstraktion im Formalen weiter beschritten, figürliche Motive nurmehr da und dort versteckt, in der freien Acrylmalerei wird das Spiel der Formen rhythmisiert. Durchdringung von Flächen, meist diagonal aufsteigende Bewegungen erzeugen dynamische Raumstrukturen, das Spiel von Form und Gegenform, Lebendigkeit. Inhaltlich betrachtet entfalten diese "neuen" Bilder die schon bekannte Dynamik, zwischen Bedrohung und Hoffnung, Himmel und Hölle, ausgedrückt durch die verschiedensten Valeurs der Grundfarbe Blau. Im Werk von Pit Kinzer, soviel mag deutlich geworden sein, stellt das "Rayuela Blues Projekt" keine Zufallsepisode dar, sondern vielmehr eine konsequente Fortentwicklung seines Oeuvres, das sich gewissermaßen nach inneren "Spielregeln" vollzieht.
Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst, fernab liegt mir alle Habsucht aber die blaue Blume sehn´ ich mich zu erblicken.. (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)
Ebensowenig zufällig erscheint es - dies als zweiter Zugang zum Verständnis - wenn der Künstler eine Engführung auf die Farbe Blau vornimmt. Wie kaum eine andere Farbe ist sie in ihren Differenzierungen und Ausmischungen (selbst nur zu Weiß und Schwarz hin) von einer Vielfalt der psychischen und geistigen Ausdruckswerte. Im angelsächsischen Sprachraum, wie gesagt, der Trauer und Melancholie verwandt, im Deutschen, wie die Redewendung "Ins Blaue fahren" andeutet, eher Chiffre des Irrealen, Ungreifbaren, der Ferne. Für Goethe war Blau "Reiz und Nichts in Einem", für Kandinsky ein "Element der Ruhe". Die Farbe der Ferne, die Farbe des Himmels, Metapher des Unendlichen, bei den Chinesen gar Symbol der Unsterblichkeit, ist gleichwohl in psychologischer Sicht geeignet, nach "innen", in die "Tiefe" zu streben (Max Lüscher). Pit Kinzer reizt die Ambivalenzen der Farbe aus von dem Schwarzblau eines unheimlich-nachtländischen Reiches der Phantasie über die helle, reine Kraft des leuchtenden Blau neben Schwarz hin bis zur lasierenden Zartheit der Farbe von Wasser und Luft. In seiner Formensprache balanciert er die "Kälte" (Johannes Itten) des Blau durch organisch-weiche Bewegungen, verglichen etwa mit den blauen Dreiecken, die Blinky Palermo für die Staffelung von Farbebenen einsetzte.
Pit Kinzers "Rayuela-Blues-Projekt" artikuliert sich autonom, betrachtet man auch die "blauen Epochen" der europäischen Kulturgeschichte. Im Gefolge der Romantik entwickelte sich ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Blaubegeisterung, der die touristische Entdeckung der blauen Grotte auf Capri ihre anhaltende Beliebtheit und ihre künstlerische lnspirationskraft bis hin zu James Turrells "Shallow Space Constructions" verdankt. Picasso bündelt in seiner blauen Periode den schon in der katalonischen "Modernista"-Bewegung artikulierten Bedeutungsgehalt des melancholischen Blau mit der Farbsymbolik für Maria, der Himmelskönigin, zu ambitionierter Darstellung einer existentiellen Tristesse. Es mag wohl diese Ambivalenz der Farbe gewesen sein, die zur Namensgebung des "Blauen Reiter" und der "Blauen Vier" (Feininger, Jawlensky, Kandinsky, Klee, 1924) Anlaß gab. In den fünfziger Jahren kam Blau erneut zu künstlerischen Ehren. Yves Klein entwickelte sein "International Klein Blue", ein tief leuchtendes Ultramarin, das er als Inkarnation des Kosmischen, Grenzenlosen und Universellen interpretiert, und mit dem er ab 1957 auch Gegenstände durchtränkt und bemalt. Mit der Bemalung von Gegenständen im Rahmen des "Rayuela-Blues-Projektes" greift Pit Kinzer diesen Kontext zwar auf, verändert ihn zugleich aber signifikant, formal durch die Verwendung anderer und verschiedener Blautöne, und dadurch inhaltlich in einer Abkehr von der allzu rosenkreuzerischen Vorstellungswelt Keins. Zeitlich bereits vor Yves Klein hatte Barnett Newman mit "Day before one" (1951) Blau in seiner völligen Erscheinungsreinheit als Bildrealität verwirklicht.
... uns auf sanfte Weise umzubringen mit seinem ewigen Blues ... (Julio Cortázar, Rayuela)
Zwar erscheint die Arbeit Pit Kinzers in diesen Kontext verwoben, doch zugleich autonom. Nicht mehr Bildmotive werden collagiert, sondern Strukturen (etwa Picassos) zitiert in bildnerischer Rede und Gegenrede, bei der es um nichts Geringeres geht als um bildnerische Sinnvergewisserung von Welt, mag sie auch einhergehen im Gewand eines Kinderspiels.
Wenn man sich einläßt auf dieses Spiel, seine Doppelbödigkeit und Hintergründe, auf die eigene Wahrnehmung und Phantasie, wenn man mitspielt zwischen Himmel und Hölle, entfaltet das "Rayuela-Blues-Projekt" seinen ganzen Reiz.